„Die Wolfsfrau“ ist der Titel einer Sammlung von rund 20 Märchen und Mythen, die die US-amerikanische Schriftstellerin Clarissa Pinkola Estés in den frühen 90er Jahren veröffentlicht hat und die in weiterer Folge ein Bestseller wurde. Darin enthalten ist die Legende um „Die Skelettfrau“, eine Geschichte, die sich um ein Mädchen rankt, das wegen eines Vergehens von einem Felsvorsprung ins Eismeer hinabgestoßen wurde. Für lange Zeit lag die junge Frau nun auf dem Meeresboden, bis die Fische sie bis auf die Knochen abgenagt hatten, und ihr Gerippe drehte sich mit der Strömung kontiniuerlich von einer Seite auf die andere.
Diese Erzählung bildete die Inspirationsgrundlage für die faszinierend Stückentwicklung „Die Wolfsfrau“ von Lilian Matzke (Bildbau, Regie, mobile Bühnenobjekte) und Joris Löschburg (Skript, Dramaturgie) mit dem Kollektiv Rolling Floyd, die im Theater Drachengasse ihre Uraufführung erlebte. Eine Fischerin, so wird die Handlung weitergeführt, wird durch den anhaltenden Gesang der Skelettfrau aus ihrem Alltag herausgerissen. Mitten im größten Sturm fährt sie mit dem Boot hinaus auf den Ozean, kentert, und plötzlich ist es nicht sie, die einen Fang macht, sondern die Skelettfrau hat sich die Fischerin gleichsam geangelt.
Rolling Floyd gelingt in der Drachengasse ein bildstarker Theaterabend, der nachwirkt: Wiebke Alpheis Aktionsradius als Fischerin im grauen Overall erstreckt sich auf ihre Heimstatt (Nora Pierer hat einen erhöhten Plexiglaskasten mit vielen Utensilien detailreich ausgestaltet) und auf das offene Meer, ohne Worte zu artikulieren, dafür mit umso mehr Körpereinsatz und -sprache („Das Meer spricht“, meint Regisseurin Lilian Matzke erläuternd im Programmheft, „Der Mensch schweigt.“) Wie selbstverständlich setzt sich Alphei in ein Faltboot auf einem rollenden Tisch und manövriert sich mit einem Paddel durch den Bühnenraum. Die Fische, die sich in den Fangkörben tummeln, sind aus Kunststoff, tragen aber Aufschriften wie „Eine leere Dose“ und werden von der Fischerin unbarmherzig erschlagen. Die Botschaft hinter den Worten übersieht die Fischerin in ihrer Gier.
Ihr gegenüber hat die Weltenlenkerin die Fäden in der Hand. Friederike Hellmann agiert einerseits als Puppenspielerin und hält andererseits ein ganzes Depot an technischem Equipment bereit, mit dem sie grandiose Wirkungen – visuell wie akustisch – erzielt: von Illustrationen (Julia Maltry), die via Overhead-Projektor das Geschehen bebildern, bis hin zu Beatboxing und dem Sausen des Orkans, bei dem das Publikum unterstützend eingreifen darf. Poetisch muten die Bilder des aufgehenden Mondes und des Meeres mit seinen vielen Worten an („Stille“, „Mut“, „Makrele“). Zeitweilig wird auch noch eine Windmaschine eingeschaltet, und das ganzen Stück über ist das trommelnde Geräusch eines Eisblocks, dessen Schmelzwasser auf eine metallene Unterlage tropft, zu hören.
Wenn die Fischerin die Skelettfrau mit in ihr Zuhause bringt, nimmt der Abend auch humorvolle Züge an. Sukzessive werden die einzelnen Knochenpartien wieder zusammengesetzt, das Gerippe bekommt Leben eingehaucht, und sein Herz schlägt wieder. Schlussendlich erfreut sich die Skelettfrau an Peter Cornelius’ Evergreens, zu „Du entschuldige, i kenn’ di“ wird in der beengten Bleibe der Fischerin noch ein wenig getanzt, bevor das Licht ausgeht.
„Die Wolfsfrau“ beeindruckt als geist- und ideenreiches, bezauberndes und verblüffendes Bildertheater, das dem Publikum viel Freiraum für Gedankenspiele lässt – unbedingt sehenswert!
Lilian Matzke und Joris Löschburg mit dem Kollektiv Rolling Floyd: „Die Wolfsfrau“, bis 6. Juni im Theater Drachengasse (1., Drachengasse 2), dienstags bis samstags, Beginn: 20 Uhr
Weitere Informationen: www.drachengasse.at