Graue Wände ohne Fenster oder Türen, dafür mit symmetrisch angeordneten Löchern, die dünne Lichtkegel auf das Bühnengeschehen werfen, fünf Sessel und ein Tisch: In diesem Setting siedelt Bernd Liepold-Mosser seine Bearbeitung von Gerhart Hauptmanns Naturalismus-Drama „Die Ratten“ aus dem Jahr 1911 an, die im TAG zur Uraufführung gelangte und vom Autor selbst auch inszeniert wurde.
Das Stück ist auf die beiden Frauenfiguren, Frau John und Pauline, zugeschnitten. Letzere ist kein Dienstmädchen mehr wie bei Hauptmann, sondern Pflegekraft aus einem Drittstaat. Pauline ist schwanger und wird in ihrer prekären Situation von Frau John dazu genötigt, ihr das Kind zu übergeben. Das Kind wird zur Ware, zum Kapital, das die eine – Frau John hatte eine Fehlgeburt – unbedingt haben will und der anderen daher weismacht, ihre Lebensumstände damit zu verbessern und „jobmäßig durchstarten“ zu können, quasi im Sinne einer Win-win-Situation für beide.
Herr John wiederum, der sich augenscheinlich hinter seinem dicken Aktenkoffer verschanzt, wird nicht müde zu betonen, „fix verankert auf dem Arbeitsmarkt“ zu sein. Immerhin wohnen er und seine Frau im „kreditfinanzierten Eigentumsrefugium“, und sollten alle Stricke reißen, bleibt noch Möglichkeit, den Lebensunterhalt im Home-Office zu verdienen. Jens Claßen gestaltet Herrn John als einen in seiner Lebenswelt gefangenen Erwerbsarbeiter, immerhin gilt es doch, den eigenen und äußeren Ansprüchen, privat und beruflich gleichermaßen zu reüssieren, gerecht zu werden. Als „Sollbruchstelle meines Lebens“ bezeichnet Frau John ihren Gatten, dem sie damit nicht gerade ein liebevolles Zeugnis ausstellt.
Als Pauline Rechte am Kind geltend macht und Frau John gesteht, dass sie diese als Pflegemutter beim Amt angeben hat, eskaliert die Situation. Bruno, Frau Johns jüngerer Bruder mit krimineller Vergangenheit, kommt damit ins Spiel. Ihn und seine Schwester verbindet ein inzestuöses Verhältnis, und wenn Bruno – als undurchsichtiger Bösewicht gespielt von Raphael Nicholas – Pauline langsam, Schritt für Schritt, auf leisen Sohlen nachstellt, ist zu erahnen, dass Bedrohendes auf sie zukommt.
Michaela Kaspar und Lisa Schrammel liefern einander als Frau John und Pauline ein eindringliches, ebenbürtiges Wortduell, das in seiner Intensität nachhaltig beeindruckt. Georg Schubert sorgt als exaltierter, aufdringlicher Nachbar, dem rein gar nichts entgeht, für die satirische Komponente im Stück. So rät er etwa Frau John dazu, ihrem vermeintlichen Sprössling Sojamilch (statt Muttermilch) zu geben und gleich bei der Wahl des Vornamens auf die Einbettung in das soziale Umfeld zu achten.
Karla Fehlenberg hat jenes sterile, hermetische, käfigartige Ambiente kreiert, in dem Bernd Liepold-Mossers Sprachkunst bemerkenswert gut zur Geltung kommt. Oftmalige Wiederholungen und ein emphatischer Sprachduktus wirbeln sich in die Ohren des Publikums, der Wortschatz der Charaktere gemahnt an das Vokabular eines Maßnahmenkatalogs zur Wiedereingliederung von Beschäftigungssuchenden in den Arbeitsmarkt. Neoliberale Auswüchse unserer Zeit bringt Liepold-Mosser mit feinem Sinn für satirische Überhöhung aufs Tapet. Fehlenbergs Kostüme in Hellrosa-, Grau- bzw. Brauntönen wirken als Kontrast zu den bedrückenden Lebensbedingungen, in denen sich die Charaktere bewegen.
Zusätzliche Dynamik erhält die 90-minütige, pausenlose Inszenierung (alle Mitwirkenden sind die ganze Zeit über auf der Bühne) durch Projektionen an die hintere Bühnenwand, die die Akteure während des Geschehens von sich selbst mittels Live-Kamera erzeugen, und die die Handlung zuspitzenden Musikeinlagen von Boris Fiala. Von Zeit zu Zeit setzen sich die Charaktere eine Rattenmaske auf. Wird also jeder irgendwann einmal zu einem Getriebenen innerhalb seines eigenen Mikrokosmos?
Ein in jeder Hinsicht starker, gelungener Theaterabend!
„Die Ratten“: Termine: 25., 26. und 27. April, 7., 8.,10., 11., 17. und 18. Mai im TAG – Theater an der Gumpendorfer Straße (6., Gumpendorfer Straße 67), Beginn jeweils: 20 Uhr
Weitere Informationen: www.dastag.at