Ein Autounfall ist der Auslöser für das erste Zusammentreffen des jungen Ross Gardiner mit dem deutlich älteren Mr. Green: Der in der Finanzbranche erfolgreiche Angestellte verursacht mit sportlichem Tempo einen Beinahe-Zusammenstoß mit dem Witwer und wird von einem Gericht zum Ableisten eines Sozialdienstes verurteilt. Einmal wöchentlich muss Ross nun Mr. Green in dessen Wohnung in New York City aufsuchen und ihn im Alltag unterstützen.
Doch gleich der erste Besuch des jungen Mannes bei seinem Klienten verläuft völlig anders als von Ross erwartet. Mr. Green ist nicht nur ahnungslos, was seine neue Betreuung betrifft, er reagiert auch äußerst unwirsch und desinteressiert. Ross, der sich um das Wohlergehen des Witwers ernstlich sorgt, hat koscheres Essen mitgebracht, das Mr. Green zusehends versöhnungsbereit stimmt. Und so nähern sich die beiden unterschiedlichen Charaktere bei ihren wöchentlichen Zusammenkünften in längeren Gesprächen allmählich einander an. Die Stimmung kippt allerdings, als Ross, ebenso jüdischer Herkunft wie Mr. Gardener, diesem von seinem Coming Out erzählt. Vorurteile und streng religiöse Glaubensgrundsätze lassen den alten Mann in einem starren Gedankenkorsett verharren. Doch da entdeckt Ross, dass auch Mr. Greens Familiengeschichte einen wunden Punkt aufweist.
„Besuch bei Mr. Green“ ist ein Erfolgsstück aus der Feder des US-amerikanischen Dramatikers Jeff Baron, Jahrgang 1952, das im Jahre 1996 in Massachusetts/USA uraufgeführt und seither in 50 Ländern, in 24 Sprachen und in über 500 Produktionen zu sehen war. Im Jahr 2001 wurde das Schauspiel mit dem Kulturpreis Europa als ein Lehrstück für Toleranz und Akzeptanz in Bezug auf Minderheiten ausgezeichnet. Für das Theater Neue Tribüne Wien, im Untergeschoß des Café Landtmann gelegen, hat Richard Maynau das Zweipersonenstück mit viel Feingefühl für psychologische Zwischentöne inszeniert.
Sehr präzise hat Maynau beide Charaktere gezeichnet und ihre prägenden Eigenschaften gekonnt herausgearbeitet. Mit großer Spielfreude und offensichtlicher Herzenswärme für ihre Figuren gestalten Peter Josch als Mr. Green und Anatol Rieger als Ross ihre Rollen aus. Unterschiedlicher könnten die beiden Männer nicht sein: Peter Josch, der im Oktober des Vorjahres seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, verleiht seinem Mr. Green meisterhaft ruppige Züge. Der ehemalige Besitzer einer chemischen Reinigung lässt seinen Ressentiments gegenüber der Lebensweise des jüngeren Ross freien Lauf, um später feststellen, dass er sich durch sein ausgrenzendes Verhalten selbst isoliert. Anatol Rieger legt seinen Ross sehr glaubhaft als aufmerksamen Zuhörer und tatkräftigen jungen Alltagshelfer an, der aber noch einige Lektionen in Sachen Empathie lernen muss, wenn Ross im Überschwang des Aufräumens der chaotisch anmutenden Wohnung (großartige, detailreiche Ausstattung von Karin Tilgner) Blumen entsorgt, die für Mr. Greens verstorbene Ehefrau gedacht waren.
Fazit: Ein Stück mit Humor und Tiefgang, das viele thematische Facetten einschließt – wie es beispielsweise gelingen kann, überkommene Denkmuster zu überwinden, Akzeptanz und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensmodellen zu entwickeln, Verständnis für die Bedürfnisse anderer Generationen zu zeigen oder auch durch die Auseinandersetzung mit einem Gegenüber neue Erkenntnisse zu gewinnen und dadurch Vorurteile abzubauen. Ein starkes Stück, große Empfehlung!
„Besuch bei Mr. Green“ von Jeff Baron: Zu sehen noch bis 13. Mai 2022 im Theater Neue Tribüne Wien (im Untergeschoß des Café Landtmann, Universitätsring 4, 1010 Wien), Beginn: 20 Uhr
Weitere Informationen: www.tribuenewien.at