Das gemütlich-rustikale Wohnzimmer und das romantisch anmutende Licht, das durch den Vorhang ins Innere fällt, täuschen nicht darüber hinweg, dass die Atmosphäre im Hause der Familie Tyrone höchst konfliktgeladen ist. Vier Menschen – die Eltern und die beiden Söhne – liefern einander vorwurfsvolle, hasserfüllte Wortgefechte und können (und wollen) doch nichts an ihrer Situation ändern. Einzig dem jüngeren Sohn, Edmund, der sich mit schlimmen Schuldzuweisungen seines Bruders konfrontiert sieht, gelingt es, sich aus der hoffnungslos verfahrenen Situation zu befreien.
Eugene O’Neills Familiendrama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ hat Erich Martin Wolf im Theater Experiment atmosphärisch sehr dicht inszeniert, und er lässt das Publikum von außen in die Gefühlswelten dieser vier gescheiterten Existenzen blicken. Der Autor (1888 bis 1953) verarbeitete in seinem Stück, das er im Jahr 1941 verfasste und im Jahr 1912 ansiedelte, seine eigene Familiengeschichte. Obgleich O’Neill eine Aufführung erst nach Ablauf einer Frist von 25 Jahren nach seinem Tod gestattete, setzte sich seine Witwe über diese Verfügung hinweg und gab das Drama für die Bühne frei.
O’Neill legt das familiäre Gefüge offen und beschreibt die vielschichtigen Beziehungen der Eltern zueinander und zu den erwachsenen Kindern, ebenso wie das Verhältnis der beiden Brüder untereinander. Mutter Mary ist von tiefsitzender Einsamkeit geplagt, lebt in ihrer eigenen Wahrnehmungswelt und ist seit der Geburt des jüngeren Sohnes Edmund von Morphium abhängig. Der Vater, James Tyrone, stammt aus ärmlichsten Verhältnissen und hat sich als Schauspieler emporgearbeitet, ohne aber seine Herkunft zu vergessen – sein Leben wird von einer überzogenen Sparsamkeit bestimmt. Der ältere Sohn, James Jr., wirft seinem Bruder vor, indirekt schuld an der Morphiumsucht der Mutter zu sein, und der jüngere Sohn, Edmund, der an Schwindsucht leidet, macht dem Vater Vorwürfe, dass dieser, bedingt durch seinen Geiz, kein Geld für eine Behandlung in einem ordentlichen Sanatorium ausgeben will. Mit im Haus lebt auch das junge Dienstmädchen Cathleen, das bei einem gemeinsamen Glas Whisky zu einer Art Verbündeten für Mary wird – immerhin holt sie das Schmerzmittel für ihre Herrin aus der Apotheke, allerdings in der Annahme, dass es ein Medikament gegen Rheuma sein soll.
Regisseur Erich Martin Wolf beweist großes Gespür für präzise Figurenzeichnung und einen genauen Blick für die vielen Nuancen innerhalb der Zerwürfnisse. Sein Ensemble bringt die emotionellen Verstrickungen sehr wahrhaftig auf die Bühne, die Erwin Bail in ein wohnliches Ambiente verwandelt hat.
Dagmar Truxa brilliert als morphiumsüchtige Dame des Hauses und changiert dabei zwischen heiterer Zuversicht und mütterlicher Fürsorge, um ihrem Sohn im nächsten Augenblick mit brutaler Heftigkeit seine Krankheit vorzuwerfen, die sie noch dazu herunterspielt. Truxas Mimik spiegelt dabei alle Facetten fulminant wider. Michael Mischinsky überzeugt als Familienvater, der sich mit der aussichtlosen Situation zu Hause abgefunden hat und dem es auch an Energie und Durchsetzungsvermögen fehlt, mit seiner Frau und den Söhnen eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Er flüchtet in den Alkohol, eine Flasche Whisky ist auf dem Tisch allgegenwärtig.
Sehr berührend wurde die Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern in Szene gesetzt: James wirft seinem Bruder vor, dass seine Geburt der Auslöser für die Schmerzmittelsucht der Mutter gewesen wäre, indes sei der Jüngere dennoch eine bedeutsame Stütze für ihn. Andras Sosko und Claudio Falvay spielen das ungleiche Brüderpaar bravourös: Sosko mimt den abgestumpften Jung-Schauspieler James, der sich durch seinen lasterhaften Lebenstil einen miserablen Ruf bei den Familien in der Umgebung erarbeitet hat; Falvay glänzt als zartbesaiteter und tiefgründiger Edmund, der als einziger in der Familie sein Tun – und das der anderen – zu reflektieren vermag. Großartig agiert auch Beate Gramer: Sie verlieht ihrer Figur, dem Hausmädchen Cathleen, naiv-gutgläubige Züge, lässt sie aber auch zu einer verständnisvollen Zuhörerin für ihre Dienstgeberin werden.
Fazit: Ein Abend mit Tiefgang, der einen nicht so schnell los lässt – unbedingt sehenswert!
Gespielt wird noch bis 4. November im Theater Experiment (9., Liechtensteinstraße 132), jeweils dienstags bis samstags (Beginn: 20 Uhr).
Weitere Informationen: www.theater-experiment.com