Selten hat man die Aufführung eines Stückes so nachdrücklich erwartet wie die von „Hikikomori“ in der TheaterArche: Ursprünglich war die Premiere für 19. März angesetzt, die jedoch durch die Regierungsvorgaben bezüglich der Coronapandemie verschoben werden musste. Am 29. Mai war es dann endlich soweit – die TheaterArche öffnete als erstes Theater in Wien wieder ihre Pforten, und die Premiere konnte (nach einer Handvoll Presse-Voraufführungen) stattfinden.
Bei meinem Besuch am 4. Juni wurden sämtliche Sicherheitsvorschriften penibel eingehalten: Statt freier Platzwahl gibt es fix zugeteilte Sitzplätze im Schachbrettmuster, statt der vorhandenen 90 Sessel werden nur maximal 40 vergeben, womit der Mindestabstand zu den Umsitzenden (die nicht zur eigenen Gruppe gehören) einen Meter sogar meist weit überschreitet. Theaterleiter Jakub Kavin geleitet die Besucher nach Reihen gestaffelt zu den Plätzen, zudem tragen alle Mitarbeiter mit Publikumskontakt ein Gesichtsschild. Wer also Bedenken hätte, in Corona-Zeiten ins Theater zu gehen: Hier legt man wirklich größten Wert darauf, sämtliche Bestimmungen vorbildlich zu erfüllen.
„Hikikomori“ enstand nach einer Idee von Jakub Kavin im Rahmen eines E-Mail-Austausches zwischen den beiden Autoren Sophie Reyer und Thyl Hanscho. Der Text mutet beim ersten Hören einigermaßen herausfordernd an, beim (mehrfachen) Lesen hingegen eröffnen sich poetische, aber auch drastische Sprachbilder, die zum Weiterdenken einladen.
Regisseur Kavin hat mit Bernhardt Jammernegg auf einem Podest im Bühnenbereich der TheaterArche das Zimmer das Wohn- und Schlafzimmer einer Hikikomori aufgebaut, die auf wenigen Quadratmetern den Rückzug in ihre eigene Welt verwirklicht. „Hikikomori“ als soziologisches Phänomen beschreibt die freiwillig gewählte Isolation von (zumeist jüngeren) Menschen in Japan in ihrer Wohnung oder gar einem Zimmer, aus einer Art Überforderung heraus, einer Verweigerung dem Leistungsdruck gegenüber, mit einem Minimum an Kontakten zur Außenwelt; ebenso bezieht sich der Begriff auch auf die Betroffenen selbst.
Noch vor der geplanten Premiere im März wurde die Produktion von der Realität der Quarantänebestimmungen eingeholt, und so präsentiert sich „Hikikomori“, ein Stück über soziale Isolation, wie eine vorweggenommene Reflexion der aktuellen Ereignisse. Zu Beginn schlägt die Protagonistin, gespielt von Manami Okazaki, noch im Bett liegend, die Decke zurück; der Tag beginnt mit einer „Katzenwäsche“ in der Puppenküche samt intensiver Händewaschprozedur. Muss mich reinigen gegen das Vergehen von Zeit ehrlich! meint die junge Frau, die sich sodann über ihren Pyjama das Oberteil eines Matrosenanzugs anzieht. Auf einem Beistelltisch hat sie ihre Küchenutensilien angeordnet, vom Wasserkocher bis zur Eieruhr und einem Fertignudelgericht ist das Notwendigste vorhanden. Mit einem gelben Auto fährt sie dann akkurat über den Spielstraßenteppich vor ihrem Bett, später legt sie Fotos auf den Boden rund um sich und spielt, in sich versunken, Memory.
Ausgesprochen bildstark hat Jakub Kavin den Text von Sophie Reyer und Thyl Hanscho inszeniert, fast schon kontemplativ muten die Szenen, in denen die Hikikomori ihre Puppenküche, Utensil für Utensil an die Haken hängt, aufräumt oder dem Wasserkocher zusieht, wie er durch Erhitzung seine Farbe wechselt und mittels LED-Beleuchtung rot wird. Immer wieder aber bricht Kavin den Handlungsverlauf auf und lässt Okazaki hinter einem Gaze-Vorhang verschwinden, auf den unterschiedlichste Motive – Gemälde des japanischen Malers Hiromitsu Kato (1957-2019), aber auch Visuals von Jakub Kavin – projiziert werden.
Hinter dem Vorhang steht ein Mikrofon samt Rekorder, mit dem die Hikikomori Loops, gleichsam als Parolen („Bewegung als Hoffnung“), aufnimmt und auch dazu tanzt. Klaustrophobisch muten jene Szenen hinter dem Vorhang mitunter an, wohingegen man als Zuschauerin sich fast ertappt fühlt, wenn die Hikikomori, deren Charakter Manami Okazaki eine bemerkenswerte Vielschichtigkeit verleiht, vorne am Bühnenrand hockt und mit einem breiten Grinsen, genüsslich ihre Nudeln verspeisend, das Publikum taxiert. Okazaki, ausgebildete Opernsängerin, überzeugt mit einer beachtlichen Bandbreite ihres Könnens, wenn sie „Für Elise“ am Keyboard spielt, im Verlauf des Stücks auch das Saxophon ertönen lässt oder das Lied „Ohne mich wird Frühling sein“ anstimmt. Da draußen ist nichts zu finden was nicht man selbst ist. Sätze wie dieser bleiben im Gedächtnis hängen. Leben steckt dich in die Tasche. Und dann bist du weg.
Fazit: Ein höchst intensiver Abend zwischen Kontemplation und Klaustrophobie, mit poetischen, aber auch drastischen (Sprach-)Bildern, die zum Weiterdenken einladen, sehr ausdrucksvoll gespielt!
„Hikikomori“: Bis 4. Juli 2020 in der TheaterArche (6., Münzwardeingasse 2), Beginn: jeweils 20 Uhr.
Weitere Informationen: www.theaterarche.at, Tickets: www.eventim-light.com