Freie Bühne Wieden: „Willkommen“ in einer streitbaren Wohngemeinschaft

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„Willkommen“ in der Freien Bühne Wieden (v. l.): Georg Müller-Angerer, Niklas Zoubek, Nici Neiss, Anna Sophie Krenn, Helene Hütter, Anatol Rieger (Foto: Freie Bühne Wieden)

Mitten im monatlichen Jour fix seiner Wohngemeinschaft konfrontiert Benny die Anwesenden mit einer Neuigkeit: Der junge Anglistikdozent geht für ein Jahr nach New York, und während dieser Zeit möchte er sein Zimmer einer geflüchteten Familie zur Verfügung stellen. Im Nu geht es rund – schließlich hat jedes WG-Mitglied eigene Vorstellungen, was mit dem Zimmer passieren soll, und auch sonst prallen unterschiedlichste Meinungen aufeinander…

Geradewegs in eine schicke Innenstadt-WG führt „Willkommen“ von Lutz Hübner (* 1964 in Heilbronn) und Sarah Nemitz (* 1964 in Düsseldorf) das Publikum, das rund 90 Minuten lang (Erzählzeit wie auch erzählte Zeit) Zeuge der großteils hitzigen Diskussionen der Bewohner wird. Uraufgeführt 2017 am Düsseldorfer Schauspielhaus, ist das Stück aktueller denn je. Die Freie Bühne Wieden hat „Willkommen“ als österreichische Erstaufführung auf den Spielplan gesetzt und damit einen echten Glücksgriff gelandet. Hübner und Nemitz haben sechs sehr greifbare Charaktere geschaffen, die ein konfliktträchtiges Thema am Küchentisch verhandeln und dabei die Zuschauer leichtfüßig, aber mit Tiefgang in die Kontroverse hereinholen. Dass die Figuren so plastisch und lebensnah wirken, ist der hervorragenden Regie von Sam Madwar und dem mitreißend agierenden Ensemble zu verdanken.

Unterschiedliche Standpunkte, innerer Zwiespalt

Faszinierend ist es zu sehen, dass nicht nur die Charaktere so unterschiedliche Ansätze vertreten, sondern auch in sich mit Widersprüchen kämpfen. Sophie, die Hauptmieterin der geschmackvoll und mit vielen Details eingerichteten Wohnung (Bühnenbild: Sam Madwar) kann sich für Bennys Idee sofort begeistern, muss sich aber im Verlauf der Handlung anstrengen, ihren Standpunkt gegenüber ihren Mitbewohnern zu behaupten. Anna Sophie Krenn beeindruckt mit hochemotionalem Spiel als hypersensible Idealistin, die sich noch dazu in ihrem Beruf als Fotokünstlerin von ihren Mitbewohnern maßlos unterschätzt fühlt.
Diametral argumentiert Doro, Verwaltungsangestellte und ältestes Mitglied der WG, die sich ob Bennys Plänen in ihrer Freiheit eingeschränkt sieht und die Errungenschaften des Feminismus hochhält, die für sie bei einem Einzug einer syrischen Familie auf der Kippe stehen. Nici Neiss überzeugt als Klartext redende Doro, die zwar Verständnis für die Situation von geflüchteten Menschen aufbringt, jedoch in den eigenen vier Wänden damit nicht konfrontiert werden möchte. Sehr spannend wirkt hier die Widersprüchlichkeit der Figur, die Nici Neiss sehr pointiert darstellt.

Auch Anglistikdozent Benny wird großartig von Niklas Zoubek als vielschichtiger Charakter verkörpert: Zwar möchte er mit seiner Idee, die WG betreffend, Gutes bewirken, muss sich aber dann auch (Selbst-)Zweifeln stellen, da er ja in der Ferne nicht mit den Auswirkungen konfrontiert wäre. Darüber hinaus entzieht er sich nach einem Beziehungs-Aus etwaigen Unannehmlichkeiten mit Sophie, die die Trennung noch nicht ganz überwunden hat.
Georg Müller-Angerer verleiht seiner Figur des jungen Betriebswirten Jonas angenehm unaufgeregte Züge. Sehr schlüssig spielt Müller-Angerer den pragmatisch und abgeklärt veranlagten Berufsanfänger, dem es nicht in erster Linie um weltanschauliche Aspekte geht, sondern um seine Ruhe, die er benötigt, da er sich noch in der Probezeit für seinen Job als Banker befindet.

Helene Hütters Anna ist der Ruhepol der Runde – sachlich und reflektiert eröffnet die Studentin der Sozialpädagogik der Wohngemeinschaft ihre Pläne in Sachen möglicher Familiengründung. Hütter verleiht ihrer Figur sehr gekonnt Stärke und Tiefgang zugleich, und ihr Spiel wirkt, gerade weil sie leisere Töne anschlägt, umso eindringlicher.
Last but certainly not least setzt Anatol Rieger als Achmed und Annas Freund einen höchst erfrischenden Kontrapunkt. Mit großer Verve mimt er den unerwarteten Gast in der WG, der sich sogleich in die Diskussion stürzt und als Migrant der zweiten Generation einerseits polarisiert, andererseits zwischen den Stühlen sitzt. Grandios und sehr glaubhaft ist Riegers Darstellung des abgebrühten Mitarbeiters einer Fahrradwerkstatt, nicht zuletzt auch durch seine sehr lebendige Körpersprache.
Alles in allem bewegen sich die Charaktere als durchaus streitbare WG-Mitglieder – bedingt durch ihre unterschiedlichen Standpunkte und ihren inneren Zwiespalt – innerhalb einer volatilen Atmosphäre.

Tatendrang versus Toleranzgrenze

An den Reaktionen des Premierenpublikums war zu merken, dass das Stück zweifellos zu Diskussionen anregt und förmlich dazu einlädt, Denkmuster zu reflektieren und Haltungen zu hinterfragen, jenseits jeglicher Schwarz-Weiß-Malerei. Inwieweit ist jede und jeder von uns bereit, sich konkret in eine Gemeinschaft einzubringen, und wo endet dieser Tatendrang? Und wo verläuft die Toleranzgrenze, wenn es um vermeintlich unvereinbare oder unverrückbare Positionen geht? „Willkommen“ wirft spannende Fragen auf, lässt aber auch den Humor nicht zu kurz kommen. Alles in allem: eine Produktion, an der kein Weg vorbeiführen sollte. Wärmste Empfehlung!

„Willkommen“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz: Gespielt wird bis 28. Mai 2025 in der Freien Bühne Wieden (4., Wiedner Hauptstraße 60b), Beginn jeweils: 19.30 Uhr.

Weitere Informationen: www.freiebuehnewieden.at