Freie Bühne Wieden: Erinnerungen, die bleiben, auch wenn das Vergängliche nicht mehr da ist

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Freie Bühne Wieden: Michaela Ehrenstein in „Die Dinge meiner Eltern“ (Foto: Freie Bühne Wieden)

Behalten, entsorgen, verschenken oder verkaufen – vor dieser grundlegenden Entscheidung steht Agnes, freischaffende Schauspielerin, die den einstigen Familienwohnsitz nach dessen Verkauf vom Inventar befreien muss. Agnes’ Schwestern, drei an der Zahl, sind in alle Himmelsrichtungen verstreut, und so liegt es an ihr, mit der Räumung alleine klarzukommen. Vom Keller bis zum Dachboden arbeitet sich Agnes durch Tausende an Gegenständen, die allesamt eine Geschichte haben und Erinnerungen bei ihr hervorrufen – von Familienfeiern bis hin zu Ritualen aus dem Alltag mit den Eltern und den drei Schwestern.

Gilla Cremer (1956 in Königswinter/Rhein geboren) hat mit ihrem Ein-Personen-Stück „Die Dinge meiner Eltern“, das vor zehn Jahren in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde, einen Monolog geschaffen, der das Publikum in Agnes’ Mikrokosmos eintauchen lässt. Dass vor dem Auge der Zuschauerin aber auch tatsächlich Gedankenspiele entstehen, ist der feinfühligen und bildhaften Regie von Marcus Ganser und der eindrucksvollen Darstellung von Michaela Ehrenstein zu verdanken. In der Freien Bühne Wieden ist das vielschichtige Stück nun im Rahmen einer österreichischen Erstaufführung zu sehen.

Familiengeschichte aufgerollt

Die Bühne, die auch Regisseur Ganser gestaltet hat, ist vollgeräumt mit Übersiedelungskartons. Dutzende davon stehen über- und nebeneinander gestapelt, dazwischen agiert Ehrenstein als Agnes, die die Hausräumung vorantreiben muss und dabei ihre Familiengeschichte aufrollt. Bis auf einige Lampen, die auf und neben den Kisten stehen, bleibt der Hausrat dem Publikum verborgen, und so ist die Vorstellungskraft der Zusehenden gefragt, sich die unzähligen Dinge, die Agnes sortieren muss, selbst anschaulich zu machen.

Und das gelingt sehr leicht, da Michaela Ehrenstein ihrer Figur eine sehr glaubwürdige Lebendigkeit verleiht, die dem traurigen Anlass – das Haus muss nach dem Ableben der Eltern geräumt werden – mit ihrer zupackenden Art begegnet. Als zweitjüngste der vier Schwestern ist sie die einzige, die noch in der angestammten Heimat wohnt, die drei anderen haben Führungspositionen im Ausland inne. Deshalb haben Bärbel, Milli und Hühnchen (Michaela Ehrenstein schlüpft auch in die Rollen der Schwestern), es Agnes überlassen, die Verlassenschaft der Eltern aufzuarbeiten. Einzelne Erbstücke wie Perlenkette oder Nähmaschine wurden bereits via Testament vermacht, doch nun muss Agnes sämtliche Einrichtungsgegenstände und den Hausrat sichten und setzt dadurch eine Kaskade an Erinnerungen in Gang.

So hantelt sich Agnes mit Hilfe etlicher Listen von den Küchenutensilien über die umfangreiche Bibliothek hin zu den persönlichen Gegenständen der Eltern, wie etwa Briefe oder Tagebücher, durch. Viele Fragen tauchen auf, die unbeantwortet bleiben müssen. Wie war es denn wirklich um die Beziehung der Eltern bestellt? Das Bett der Eltern wiederum lenkt den Blick zurück auf eine Zeit, in der die Kinder, als sie noch klein waren, in der Kuschelritze einschlafen durften. Auch der Geruch des Morgenmantels der Mutter weckt bei Agnes Assoziationen an ihre Kindheit.

Der einstündige Monolog lässt dem Publikum immer wieder Gelegenheit innezuhalten und mit Agnes eine Art Zeitreise anzutreten. Auch wenn die Thematik vermeintlich traurig erscheint, ist das Stück von einer lebensbejahenden, zuversichtlichen Stimmung getragen. Die einzelnen Szenen sind wunderbar austariert zwischen Agnes’ Erkenntnis, dass das Unvermeidbare erledigt werden muss, und den Erinnerungen, die bleiben, auch wenn das Vergängliche nicht mehr da ist.

Ein starker, sehenswerter, virtuos gespielter Abend zwischen Melancholie, Aussöhnung und Humor mit Tiefgang!

„Die Dinge meiner Eltern“ von Gilla Cremer: Gespielt wird bis 12. Dezember 2024 in der Freien Bühne Wieden (4., Wiedner Hauptstraße 60b), Beginn jeweils: 19.30 Uhr.

Weitere Informationen: www.freiebuehnewieden.at